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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 08.11.2006
Aktenzeichen: 17 B 2027/05
Rechtsgebiete: VwGO, ARB 1/80
Vorschriften:
VwGO § 80 Abs. 5 | |
ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich |
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Sein Interesse, von der Vollziehung der mit seinem Widerspruch angefochtenen Versagung der Verlängerung der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis und der damit verbundenen Abschiebungsandrohung vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt derzeit das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung.
Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen summarischen Überprüfung lässt sich die offensichtliche Rechtmäßigkeit der Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht feststellen. Es erscheint zweifelhaft, ob der Antragsteller durch die verspätete Beantragung der Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis einen assoziationsrechtlichen Anspruch aus Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht verloren hat.
Zunächst ist festzustellen, dass der Antragsteller nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 das Recht auf Weiterbeschäftigung bei demselben Arbeitgeber erworben hatte. Der Antragsteller war ein Jahr lang, nämlich in der Zeit vom 25.2.2003 bis zum 24.2.2004, bei demselben Arbeitgeber beschäftigt und verfügte weiterhin über einen Arbeitsplatz. Diese Beschäftigung war auch ordnungsgemäß. Denn der Antragsteller war in diesem Zeitraum unstreitig sowohl im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis als auch einer Arbeitserlaubnis.
Die vom VG seiner Entscheidung zugrunde gelegte Annahme des BVerwG in dem Urteil vom 29.4.1997 - 1 C 3.95 -, InfAuslR 1997, 346 ff., dass ein erworbenes Recht nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 untergeht, wenn es der türkische Arbeitnehmer - wie hier - versäumt, vor Ablauf seiner Arbeitserlaubnis einen hierauf gerichteten Verlängerungsantrag zu stellen, a.A. VG Frankfurt, Urteil vom 6.6.2001 - 1 E 3234/00 (2) -, NVwZ-RR 2002, 386, und Gutmann, in: GK-AufenthG, ARB Artikel 6 Rdnr. 133 f. und 274, bedarf im Lichte der später ergangenen Urteile des EuGH zur Rechtsposition eines durch den Assoziationsratsbeschluss 1/80 berechtigten türkischen Staatsangehörigen einer erneuten Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren, gegebenenfalls der Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH.
Der Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 lässt zwar die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen. Anders verhält es sich aber, wenn der türkische Arbeitnehmer bereits eine Rechtsposition nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 erlangt hat. So geht der EuGH in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 genannten Rechte des Begünstigten unabhängig davon sind, dass die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ein spezielles Verwaltungsdokument wie eine Arbeitserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis ausstellen.
Vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 30.9.1997 - C-98/96 (Ertanir) -, InfAuslR 1997, 434 Rdnr. 55 und 66.
Beiden Bescheinigungen wird nur eine deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion zugewiesen. Zu beachten ist ferner, dass die Mitgliedstaaten für Verstöße gegen solche Obliegenheiten zwar Sanktionen verhängen dürfen, die denen entsprechen, die bei geringfügigen Zuwiderhandlungen von Inländern gelten; sie dürfen jedoch keine unverhältnismäßigen Sanktionen vorsehen, die - wie hier - eine Beeinträchtigung des unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 folgenden Aufenthaltsrechts schaffen würden.
Vgl. EuGH, Urteil vom 16.3.2000 - C-329/97 (Ergat) -, InfAuslR 2000, 217 Rdnr. 56, 58 und 62.
Dieser Rechtsprechung des EuGH hat der Gesetzgeber in § 4 Abs. 5 und Abs. 3 Satz 2 des zum 1.1.2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes Rechnung getragen. Darin erkennt er an, dass eine Aufenthaltserlaubnis und eine damit verbundene Berechtigung zur Ausübung einer Beschäftigung nur deklaratorischer Natur sind und lediglich zum Nachweis der Rechte dienen, sofern das Aufenthaltsrecht aus dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 tatsächlich besteht.
Vgl. BT-Drucks. 15/420 zu § 4 Abs. 5 AufenthG.
Vor diesem Hintergrund spricht derzeit vieles dafür, dass ein türkischer Staatsangehöriger durch den Nichtbesitz bloß deklaratorischer Verwaltungsdokumente seinen - wie hier - bereits erworbenen Rechtsanspruch aus Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 auf Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit bei demselben Arbeitgeber nicht verlieren kann.
Im Übrigen erscheint fraglich, ob das BVerwG an seiner entgegengesetzten Rechtsauffassung im Urteil vom 29.4.1997 noch festhält. In seinem Urteil vom 19.9.2000 - 1 C 13/00 -, InfAuslR 2001, 61, hat es angenommen, dass ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht deshalb erlischt, weil der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Ablauf einer vorangegangenen Aufenthaltsbewilligung gestellt worden ist. Auch wenn die Zeit zwischen dem Ablauf der Aufenthaltsbewilligung und Antragstellung - anders als hier - nur wenige Tage betragen hat, verdeutlicht die Entscheidung, dass der im Urteil vom 29.4.1997 aufgestellte Grundsatz des Verlustes eines Rechts aus dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 bei nicht rechtzeitiger Geltendmachung durch einen Antrag auf Verlängerung der Arbeits- und der Aufenthaltserlaubnis zumindest nicht mehr (uneingeschränkt) aufrechterhalten worden ist.
Dem aus Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 folgenden Recht auf Weiterbeschäftigung steht nicht entgegen, dass die Arbeitsverwaltung wegen des Vorrangs anderer Beschäftigter Bedenken gegen die Erteilung einer Arbeitserlaubnis geäußert hatte. Die Arbeitsverwaltung war - worauf der Antragsteller zutreffend hingewiesen hat - nicht mehr berechtigt, das unmittelbar aus dem Assoziationsratsbeschluss folgende Recht auf Weiterbeschäftigung bei demselben Arbeitgeber Bedingungen zu unterwerfen oder seine Ausübung einzuschränken.
Schließlich ist die Rechtsposition des Antragstellers nicht deshalb erloschen, weil er zeitweise bei seinem Arbeitgeber nicht beschäftigt war. Denn der Antragsteller war an der Beschäftigung allein durch Maßnahmen des Antragsgegners gehindert. Dass der Antragsteller seine bisherige Beschäftigung bei seinem Arbeitgeber nicht wieder aufnehmen kann, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht vorgetragen.
Da die Erfolgsaussichten des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus den vorstehenden Gründen gegenwärtig offen sind, führt eine von den Erfolgsaussichten unabhängige Interessenabwägung zu einem überwiegenden Interesse des Antragstellers daran, von der Vollziehbarkeit der Verfügung bis zur Klärung der offenen Fragen im Hauptsacheverfahren verschont zu bleiben. Hierfür spricht, dass gewichtige Anhaltspunkte für ein assoziationsrechtliches Weiterbeschäftigungsrecht bestehen, das dem Antragsteller ein weiteres Aufenthaltrecht im Bundesgebiet vermitteln kann. Dem vorläufigen Verbleib stehen andererseits - soweit ersichtlich - keine nennenswerten öffentlichen Interessen entgegen. Namentlich ist nichts dafür bekannt, dass der Antragsteller sich während seines Aufenthalts in Deutschland strafbar gemacht hätte oder er zur Bestreitung seines Lebensunterhalts öffentliche Mittel in Anspruch nimmt.
Ende der Entscheidung
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